hoersen hat geschrieben:und immer wieder ADAGIO FOR STRINGS von samuel barber.
provoziert abgrundtiefe traurigkeit und ist fast unerträglich, wenn man selbst schon melancholisch drauf ist. nix für suizidgefährdete...
kennt jemand mehrere interpretationen und kann die ultimative einspielung/aufnahme empfehlen?
horst
Lieber Horst,
ich bin nicht sehr vertraut mit dem Adagio for Strings und habe direkt dazu keine Vorschläge für dich. Ohne ihre Einspielungen zu kennen, kann ich mir gut vorstellen, dass Tilson-Thomas, Bernstein, Levine, Kubelik (oder Sinopoli?) tollen Barber dirigiert haben könnten. Indirekt schlage ich dir eine in vieler Hinsicht verwandte und aufgrund ihres herbsüffigen Bratschenthemas über lange Zeit ähnlich klingende Musik vor: Den Kopfsatz aus Gustav Mahlers 10. Sinfonie. Ein je nach Dirigent 20 - 30-minütiges Adagio, das in langsamem Sinus unaufhaltsam zwischen spätromantischer Liebes- und expressionistischer Abschiedsstimmung hin- und herschwingt. Beileibe keine leichte Kost, da Mahler schon um seinen bald darauf tödlichen Herzfehler und die selbstverschuldete Ehekrise mit Alma wusste (die während der Komposition bereits heftig mit Walter Gropius flirtete und nur noch abwartete, bis es mit Mahlers Leben vorbei war, wie ihrem Briefwechsel zu entnehmen ist). Aber sehr lohnend.
Immer wieder habe ich ausgerechnet mit dieser Musik vom Rande des bekannten Repertoires Mitmenschen erreicht, fasziniert, oft sogar völlig aus dem Häuschen gebracht. Menschen, die einerseits Mahler (oder auch klassische Musik im Allgemeinen) noch gar nicht kannten, aber andererseits Mahlers romantischere Werke als zu lieblich empfanden. Gerade erst am Samstagabend konnte ich damit eine musik- und lebenserfahrene, selber Klavier spielende Schubertliebhaberin für den ihr weithin kaum bekannten Mahler gewinnen! Sie war begeistert, aufgeregt, hingerissen, hinterher völlig geplättet. Wir haben noch lange über diese Musik diskutiert, jetzt hat sie selber die Aufnahme zuhause...
Besonders berauschend ist das Adagio aus Mahlers 10. Sinfonie in Giuseppe Sinopolis fließender Lesart auf Deutsche Grammophon. Statt der üblichen 25 gewährt er dem Werk 33 innige Minuten Zeit zum Abheben: Mit extrem langsamen Tempi spannt er der Riesenpartitur einen adäquaten Entfaltungsraum auf. Du erhältst üppigen Platz zum Hinhören. Es saugt dich förmlich in die Musik hinein. Darin blüht Mahlers (und Sinopolis) symbolschwangere Innenwelt zu Leben auf, wie nirgendwo sonst von einem Tonträger. Kein Detail, kein Querbezug, kein fern verklingendes Wunderhornecho aus den jungen Jahren bleibt dem Hörer verborgen. Sinopolis weise geerdete und gleichzeitig leicht wie ein 100-Meter-Luftschiff schwebende Einspielung ist anders als alle anderen erhältlichen Aufnahmen dieses markerschütternden Adagios.
"Nebenbei" schlägt Mahler darin endgültig die musikalische Brücke zur Moderne. Auch deshalb harmoniert diese Musik für mein Empfinden so gut mit Barbers Adagio For Strings. Von der taumelnden Spätromantik des 19. zum radikalen Expressionismus des 20. Jahrhunderts sind darin beide Welten synchron vom ersten Takt an gleichberechtigt legiert, erhört, verheiratet. Das ist m. E. auch vielen Mahlerfans gar nicht bewußt. Mahler ist nicht nur der letzte große Sinfoniker deutscher Tradition, er ist spätestens seit seiner genialen 10. und letzten Sinfonie der erste moderne Komponist.
Diese Musik packt dich am Schlafittchen. Bei Sinopolis tastend vorangleitender Röntgenaufnahme von Mahlers musikalischem Testament bekomme ich sogar über meine Schreibtischboxen (!) - siehe meine Signatur - feuchte Augen. Unglaublich verloren, innig, wahrhaftig, verzweifelt, liebevoll, endgültig, menschlich, ... s c h ö n.
Wie tragisch, dass beide, Komponist wie Interpret dieser kongenialen Musik, in ihren Fünfzigern - klug, sensibel, gereift und doch viel zu jung an Jahren - die Bühne des Lebens für immer verlassen mussten.
Intensive Grüße
Pit
PS:
Meine Ausgabe ist die Sinopoli-Box der DGG von 1990, worin das Adagio mit der spröden 6. Sinfonie auf einer Doppel-CD gekoppelt ist. Insofern weiß ich nicht, ob wirklich dieselbe Aufnahme später auch mit der optimistisch-verliebten 8. Sinfonie gekoppelt wurde (1998, ebenfalls Doppel-CD, ebenfalls Deutsche Grammophon), deren jubelndes Ende zur Untermalung des Olympiadenfeuerwerks in Sydney weltweit über die TV-Lautsprecher ging. Falls ja, empfehle ich dir die 1998er Kopplung mit der attraktiven Achten statt die 1990er mit der 6. Sinfonie.
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Nicht täuschen lassen:
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PPS:
Lass dir bitte nicht Bruno Walters Geschwätz nacherzählen, dass diese Sinfonie "nicht Mahlers Musik" sei. Mahler hat die gesamte Zehnte noch fertig komponiert, sodass man sich ans Klavier setzen und die Sinfonie komplett vierstimmig durchspielen kann: Vom ersten bis zum letzten Ton stammt jede Note zu 100 % von Gustav Mahler. Das Adagio und weit mehr schaffte er vor seinem frühen Tod durch Herzinnenhautentzündung noch zu orchestrieren. Lediglich längere Passagen in drei der restlichen vier Sinfoniesätzen existieren nur 4-stimmig mit Mahlers handschriftlichen Anweisungen zur Instrumentierung. Während Mahler ursprünglich strikt anordnete, dass Alma nach seinem Tode das unfertig gebliebene Werk vernichten solle, änderte er später seine Meinung, komponierte statt in pedantischer Ausführlichkeit plötzlich fieberhaft in hastig hingeworfenen, schwer lesbaren Skizzen und wies die 20 Jahre jüngere Alma weitsichtig an, damit ganz nach dem eigenen (!) Ermessen zu verfahren. Ein halbes Jahrhundert später spielte Deryck Cooke der protestierenden Alma ein musikalisches Laborexperiment vor: BBC-Aufnahmen der Prototypen von 3 Sätzen. Die Mahler-Witwe brach beim Erklingen der Musik in Tränen aus und betraute Cooke mit dem Auftrag, eine musikwissenschaftlich fundierte Aufführungsfassung zu erstellen. In den Folgejahrzehnten stellte Cooke bis zu seinem Ableben drei stetig verbesserte Aufführungsfassungen vor, viele andere Musikwissenschaftler und Dirigenten folgten und folgen ihm darin. Deryck Cookes Forscherkraft und Optimismus haben wir das Überleben dieser unglaublich guten Musik in unsere Lebenszeit hinein zu verdanken!
Was die Zehnte von Mahler auch in ihren verschiedenen Instrumentierungsfassungen
nicht ist:
Keine "Unvollendete Sinfonie" à la Schuberts populärer Achter, die wenige Takte nach Beginn des 3. Satzes abbricht - wahrscheinlich übrigens, da Schubert nichts Adäquates mehr einfallen wollte, wie die Fragmente vermuten lassen (man muss es wirklich mal gehört haben. Neville Marriner hatte sie auf Philips eingespielt. Glanzlose Musik, diese paar Eröffnungstakte.).
Kein drittes Klavierkonzert von Tschaikowski, dessen noch nicht instrumentierter 2. und 3. Satz von Nachlassverwalter Sergej Tanejew aus Eigensinn kompositorisch verhunzt wurde.
Kein Mozart-Requiem, bei dem gleich ein Drittel von den Mozartschülern Franz Xaver Süssmayr und Joseph Eybler stammt.
[
Ich danke hiermit Simon Rattle für diese bezwingend klare Erläuterung. Er gab sie 1998 bei seiner höchstpersönlichen Werkeinführung fürs interessierte Konzertpublikum im Chorprobensaal der Philharmonie, eine Stunde vor jenem Konzert, bei dem die erst skeptischen Berliner Philharmoniker zum ersten Mal Mahlers 10. Sinfonie aufführten. Mit den gleichen Worten hatte Rattle es zuvor auch seinen Musikern erklärt. Später spielten BPO/Rattle eine Aufnahme des Werks ein, die den Grammy gewann. Rattles ältere Einspielung mit dem schlechteren Bournemouth SO finde ich persönlich aber mitreißender ....]
Bis auf offen Instrumentierungsfragen und die nicht von Mahler vollzogene gründliche Postpremieren-Überarbeitung ist die 10. Sinfonie in sich komplett, und wichtiger noch, auch in ihrem Wesen ist sie
voll und ganz Gustav Mahler. Pflichtkauf ist m. E. ihre fantastische Instrumentierung und Kompletteinspielung von Rudolf Barshai mit der Jungen Deutschen Philharmonie (JDPh).